Lothars Wohnung
Fotografien von Christoph Schieder
Christoph Schieder zeigt mit „Lothars Wohnung“ den Neuköllner Lebensraum seines verstorbenen Schwiegervaters. Er stellt die Frage nach dem, was von einem Leben übrig bleibt und thematisiert zugleich die in Berlin aktuelle Frage der Gentrifizierung.
„Lothars Wohnung“ – Was bleibt, wenn ein Mensch geht?
Text von Christoph Schieder
Da stand ich nun in dieser leeren Wohnung, in der nichts an seinen alten Bewohner erinnerte. Wider Erwarten wirkte die Wohnung kleiner als zuvor ohne die ganzen Möbel und mit diesen hell getünchten Wänden, nicht größer. Ich sollte eigentlich nur kurz ein paar Fotos des renovierten Zustands machen – für die Handwerker, für die Suche nach einem Mieter. Es wurden mehrere Tage daraus, das Objektiv gerichtet auf die nicht mehr vorhandenen Motive der Vergangenheit.
Mein Schwiegervater war ein Eremit im belebten Berliner Reuterkiez im Bezirk Neukölln. Dass die Welt außerhalb seiner Bleibe sich so schnell veränderte, schien ihm unheimlich zu sein. Kurz nachdem ich ihn in seiner Wohnung fotografiert hatte, hatte Lothar einen Termin beim Arzt und ich fuhr ihn dorthin. Auf dem Rückweg kamen wir auf die seit mehr als 20 Jahren überwundene Teilung der Stadt zu sprechen und es stellte sich heraus, dass er den Ostteil seiner Stadt in dieser Zeit noch kein einziges Mal besucht hatte. Ich bot ihm eine kleine Spritztour dorthin an, aber er lehnte ab. Nicht aus Bescheidenheit – er wollte einfach nicht.
Die Wohnung im dritten Stock im Hinterhof verließ er nur zum Einkaufen und, solange es seine Beine noch zuließen, um mit dem Fahrrad in seinen Schrebergarten zu fahren. Ansonsten verbrachte er seine Zeit lieber allein zuhause in seiner Wohnung, in der sich in den dreißig Jahren, die er dort wohnte, kaum etwas verändert hatte.
Als ihm das Laufen immer schwerer fiel und ihn ein leichter Herzinfarkt ereilt hatte, ließ Lothar sich nicht von seinen Kindern überzeugen, in ein ebenerdiges Apartment mit Terrasse umzuziehen. Einen alten Baum verpflanzt man nicht.
Rückblickend erstaunt es mich immer mehr, dass dieser zurückgezogen lebende und immer etwas misstrauische Mensch damit einverstanden war, dass ich ihn und seine Wohnung fotografierte. Lothar war kein belesener Mensch, aber er war durchaus reflektiert. Ich denke, es war ihm wohl bewusst, dass er etwas kauzig war. Nachdem ich meine Fotos gemacht hatte verblüffte er mich in seinem etwas genuschelten Berlinerisch mit der Aussage, dass ich ein Suchender sei, aber das, was ich suche, nicht finden würde.
Einer meiner Beweggründe mich mit meiner Umwelt fotografierend auseinanderzusetzen ist wohl, wie für viele Fotografen, das Dargestellte dem Vergessen zu entreißen – selbst wenn das in Anbetracht der Endlichkeit von Allem auch nur eine Illusion ist. In dieser leeren, sanierten Wohnung kam mir ein Berthold Brecht zugeschriebenes Zitat in den Sinn: „Der Mensch ist erst wirklich tot, wenn niemand mehr an ihn denkt.“
Fotos © Gerhard Haug